Schulpforte. Der Lumpenball 2021 hat neue Maßstäbe gesetzt. Er war neu, frisch, belebend und wahnsinnig witzig. Ein ungekannter dramatischer Hochgenuss dargeboten von jungen Talenten der elften Klassen.
Nach einem herausragenden musikalischen Auftakt, einem Gruselkanon gesungen von den Choristinnen und Choristen des elften Jahrgangs, begann das diesjährige Lumpenball Theater in finsterer Dunkelheit und Stille. Einer Stille, die den ersten Mut erfordert und einer Dunkelheit, die aus dem Nichts kam und mit dem Nichts gebrochen wird: Noch immer in der Stille leuchten zwei Taschenlampen auf. Ein Spiel aus Licht und Schatten breitet sich unheimlich über das gesamte Ludorium aus, man hört die Schritte zweier einsamer Gestalten (Felicitas Matuschka und Sophie Hattendorf) in der Dunkelheit. Dann Schreie! Schreie so plötzlich und unerwartet und gut platziert, dass ein Aufschrecken auch durch das Publikum ging und mit einem Mal die ungeklärte Stille in eine kleine eigene Geschichte mündet: Dem Betrachter erschließt sich das Bild der beiden abenteuerlustigen Protagonistinnen, die scheinbar durch verlassene Gemäuer tappen.
Eine zweite Stille entsteht, begleitet von großer Gespanntheit: Was wird als nächstes geschehen? Was erwartet unsere beiden noch fremden Gestalten? Angekommen auf der Bühne ertönt ein Knall, erneuter Aufschrei, Unruhe: Ein Bücherstapel wurde umgeworfen. Darunter befindet sich der berühmte 375. Band einer Romanreihe, aus welcher sogleich vorgelesen wird: Ein Stück im Stück entsteht. Dazu erscheint der personifizierte Vorhang (Julia Hupel), lässt die Figuren auftreten und zeigt die einzelnen szenischen Bilder, aus denen der Inhalt des Romans sinnfällig hervorgeht.
Ein Werk im Werk
Eine ausgelutschte Liebesgeschichte mit sehr einseitigen und geradezu brillant billigen Rollenbildern wird geschickt karrikiert. Da ist der etwas schmierige Dr. Raymound Andergast (Lennart Henning), ein Neureicher industrieller Eigentümer einer Brauereiengemeinschaft. Selbiger führt ein liebenswürdiges Verhältnis zu seiner Mutter (Johanna Bulst) zum Einen – und entwickelt starke, geradezu impulsive Gefühle für seine Sekretärin Lieselotte Meier (Martha Zimmer) zum Anderen. Antagonist des Raymound Andergast ist Richard (Jonas Konrath), der verlobte der Lieselotte Meier. Aufgrund eines gefährlichen Unfalls, durch welchen das Leben der Lieselotte am seidenen Faden hängt, treten auch ein Polizist (Christine Röders) und eine Krankenpflegerin (Emma Franke) auf, welche sich (zu allem Überfluss) auch ineinander verlieben.
Diese ausgeklügelte Figurenkonstellation des Werkes im Werk wird nun in zeitlich aufeinanderfolgenden einzelnen Bildern in immer wieder unterschiedlichen Situationen vor dem Hintergrund der großen Liebesgeschichte vorgeführt. Regisseurin Emma Franke weiß dabei geschickt mit minimalistischen Szenenbildern und punktgenau ausgearbeiteter gestischer Choreografie die Figuren selbst zum Leben zu erwecken, während das tatsächlich Sichtbare auf der Bühne in den Hintergrund tritt. Geschicktes Timing und grandiose Schauspielleistung ermöglichen letzten Endes, dass jeder einzelne Witz ein Volltreffer ist. Nicht zuletzt gelang es Franke und ihrem Ensemble die einfältigen Figuren bis an deren knappen Grenzen voll auszufüllen.
Das Resultat ist eine Bühnenwelt, in welcher die Existenz der Figuren plausibel wird. Sie handeln in einem eigenen Universum, folgen ihrer eigenen emotionalen Logik und stehen mit voller Überzeugung hinter ihren Emotionen. Geschickt kontrastiert das Ensemble die einzelnen radikalen Figuren. Der einfältige Richard, welcher selbst in seinem eigenen Monolog zu Beginn des Romans lediglich hervorbrachte, er sei der Verlobte der Lieselotte, wird als arbeitsloser Trunkenbold dem Aristokraten Raymound Andergast gegenübergestellt: einem schöngeistigem und reichen Durchstarter.
Neue Maßstäbe
Das Werk vereint unter der Regie von Franke die grandiosen, aber isolierten Figuren in einer fabelhaft pointierten Geschichte. Hier leben nicht nur die Charaktere als Individuen, sondern im Besonderen sind es die Wechselwirkungen der Akteure, welche der Aufführung ihre angenehme frische verleihen. Der Lumpenball 2021 hat unter Beweis gestellt, dass die fast schon totgeglaubte Kunst und Kultur nicht vollends verstorben ist. Er war ein Lichtblick – jedoch nicht nur unter den Vorzeichen der Pandemie: Selbst unter normalen Bedingungen hat der Jahrgang 11 gezeigt, was alles möglich ist und hat alle vorherigen Darbietungen dabei weit übertroffen. Von der Schauspielkunst über den Sinn für Humor bis hin zur technischen Umsetzung hat der Jahrgang 11 seinen gigantischen Einfallsreichtum und seine Kreativität unter Beweis gestellt.
Der Boden bebte nach diesem Meisterwerk, das Freude und Gelächter in die sonst von Stress geplagte Schülerschaft brachte. Und nicht zu unrecht erzittern die Zehner vor der Bärenaufgabe, das Niveau des elften Jahrganges schon in einem Jahr selbst erreichen zu müssen.
Paul Nicolai: „Dunkelrote Rosen – 375. Fortsetzung der Lilo Romane“
Regie: Emma Franke (11m)